Berlinale 2019

Der Nachtportier (1974)

Regie: Liliana Cavani
Original-Titel: Il Portiere di Notte
Erscheinungsjahr: 1974
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Il Portiere di Notte


Tja, so kann’s gehen, wenn man ein verpeiltes Filmgemüse ist. Da holt man sich einfach ein Ticket für den Charlotte Rampling Hommage-Film „Der Nachtportier“, weil er zeitlich gerade gut reinpasst, im Berlinale Palast gezeigt wird und man dorthin nicht weit hat und er interessant klingt – und stolpert unversehens via roten Teppich und Blitzlichtgewitter der Fotografen in die Verleihung des Goldenen Ehrenbären der Berlinale an Charlotte Rampling, die vor dem Screening des Films in einer Galaveranstaltung durchgeführt wird. (Die deutsche Staatsministerin für Kultur, die zeitgleich mit mir eingetroffen ist, habe ich übrigens auf dem roten Teppich knallhart ausgebremst.) Und damit nicht genug – der Kürbis eures Vertrauens sitzt dabei nur etwa zehn Meter Luftlinie von der großen Charlotte Rampling entfernt, nur etwas weiter links und eine Reihe nach hinten versetzt. Somit habe ich Charlotte Rampling gesehen. Ob Charlotte Rampling auch mich gesehen hat, wage ich allerdings nicht zu bezeugen. Was wir beide aber unzweifelhaft gesehen haben, ist eben „Der Nachtportier“ von Liliana Cavani aus dem Jahr 1974. Damals verursachte der Film die eine oder andere Schnappatmung. Denn die Geschichte des Wiedersehens eines ehemaligen SS-Offiziers, der in einem Wiener Hotel als Nachtportier arbeitet, mit der früheren KZ-Gefangenen Lucia, zu der er ein sadomasochistisches Verhältnis pflegte, hat es durchaus in sich. Ausgerechnet Lucia checkt mit ihrem Mann, einem Dirigenten, nämlich im Hotel ein, Lucia, die einzige Überlebende des SS-Mannes, der damals die Aufsicht hatte. Der plagt sich gerade mit weiteren Problemen herum: In einem Prozess soll er als Mitläufer hingestellt und von aller Schuld freigesprochen werden. Seine ehemaligen SS-Spezis, die das schon hinter sich haben, sollen dafür sorgen. Da ist natürlich die Ankunft der einzigen Zeugin, die ihn wirklich belasten kann, allen ein Dorn im Auge – zumal der Offizier die zart-harten Liebesbande von damals wieder aufnehmen will. Klingt provokant? Ist es auch. Liliana Cavani weiß in „Der Nachtportier“ genau, was sie tut. Und regt damit wohl mehr zu Diskussionen über Schuld, Vergebung und Sühne an, als es jedes moralingetränkte Werk tun könnte. Der Film hat seine Längen, und manche Szenen verlieren in ihrer Groteske etwas an Kraft – da wäre manches Mal ein subtilerer Zugang wünschenswert gewesen. Dennoch ist „Der Nachtportier“ ein Film, der hängenbleibt und auch 45 Jahre nach seiner Entstehung seine Kraft entfaltet. Was nicht zuletzt an der gelungenen Darstellung von Charlotte Rampling liegt, um den Bogen wieder zurückzuspannen. Das hätte ich ihr nach dem Film vielleicht sagen können – nur war sie da schon weg. Vielleicht hat sie mich ja doch nicht gesehen.


7,0
von 10 Kürbissen

Lampenfieber (2019)

Regie: Alice Agneskirchner
Original-Titel: Lampenfieber
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Lampenfieber


Der Friedrichstadt-Palast in Berlin ist die Heimat des größten Jugendtheaters Europas. Einmal im Jahr findet die große Aufführung vor 1.800 Menschen im Publikum statt. Alice Agneskirchner folgt mit ihrer Kamera einigen Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren, die es geschafft haben, ins Ensemble aufgenommen zu werden, ein Jahr lang – von den Aufnahmeprüfungen bis zum großen Auftritt. Sie konzentriert sich dabei nicht ausschließlich auf die Proben und das Geschehen im Theater selbst, auch wenn diese natürlich einen großen Raum einnehmen, sondern folgt den Kindern auch nach Hause und stellt sie und ihre Lebensumstände den Zusehern vor. Und diese sind manchmal nicht einfach. Da gibt es frühe Krebstode von Eltern zu verkraften oder auch aktuelle Krebserkrankungen, da gibt es die syrische Migrantenfamilie, wo die Großeltern noch in Syrien leben und nur per Skype präsent sind, da gibt es Dreifachbelastungen durch Schule, Theater und weitere zeitaufwändige Tätigkeiten wie das Schauspiel oder Mode-Bloggen nebenbei. Schnell wird sichtbar, welchen Belastungen Kinder und Jugendliche heutzutage ausgesetzt sein können, ohne dass mit dem Finger auf Verantwortliche gezeigt oder auf die Tränendrüse gedrückt wird. Alice Agneskirchner hält einfach (und unprätentiös) fest: Das ist das Leben. Manches davon suchen wir uns selbst aus (und auch das kann belastend sein), manches kommt auf uns niedergeprasselt. Und manchmal ist es auch einfach zu viel. So zeigt Agneskirchner nicht nur den Erfolg der Kinder bei der Theaterproduktion, sondern auch den Misserfolg, das Scheitern, wenn ein Kind aufgrund der zu großen Belastungen dann doch aus dem Ensemble genommen wird, um es nicht noch mehr zu beanspruchen. Insgesamt ist „Lampenfieber“ eine erfrischende und sympathische Produktion, handwerklich solide und konventionell gemacht. Kein Meilenstein, aber auch kein Film, der mehr sein will als er ist – und damit eine Atempause zwischen all den symbolisch aufgeladenen dramatischen Filmen, die man auf der Berlinale sonst so serviert bekommt.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: gebrueder beetz filmproduktion)

Variety (1983)

Regie: Bette Gordon
Original-Titel: Variety
Erscheinungsjahr: 1983
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Variety


Im Rahmen von Retrospektiven von Filmfestivals kann man Filme sichten, von denen man noch nie gehört hat und die man auch sonst nirgends finden kann. Manchmal entdeckt man dabei wunderbare Perlen wie zum Beispiel die Filme von Roberto Minervini, die auf der Viennale letztes Jahr gezeigt wurden. Und manchmal hockt man in so etwas wie Bette Gordons „Variety“. Das Leben ist bunt. Das trifft auch für die Heldin Christine (Sandy McLeod) zu, eine ätherische Schönheit in bester amerikanischer Cheerleader-Optik, also hübsch, aber brav, die aus Geldknappheit einen Job als Kartenverkäuferin eines Kinos annimmt. Der Clou dabei: Bei jenem Lichtspieltheater handelt es sich um ein Pornokino, das zwar dafür, wie man sich so ein klassisches Pornokino vorstellt, überraschend wenig abgeranzt wirkt und auch die Kundschaft weiß sich bis auf gelegentliches Betätscheln der Hand zu benehmen, zudem springt auch noch ein junger Luis Guzmán mit beeindruckendem Afro durchs Bild, um die Schöne zu beschützen, aber es ist eben ein Etablissement, in dem die junge und naive Christine erst mal fehl am Platz wirkt. Das findet auch ihr Freund Mark (Will Patton), der schon bald gewisse Veränderungen an Christine bemerkt. Wenn sie ihm nämlich ungeniert von Fantasie übers Schnackseln erzählt. Denn natürlich heizt das Pornokino das Gemüt der Heldin an, und schon bald träumt sie sich in eine Welt voller Sex, Abgründe und dunkler Machenschaften. So spioniert sie eines Tages einem Stammkunden, einem distinguierten Geschäftsmann, hinterher und scheint da allerlei Ungereimtheiten zu entdecken. Doch was ist Realität, was ist Fantasie? „Variety“ ist ein Versuch aus den 80er Jahren, verruchte Neonröhren-Ästhetik, Dauerwellen und Leggings mit einer erotisch aufgeladenen Film Noir-Atmosphäre zu verbinden. Das Problem dabei ist: Damit ist er einer von geschätzt 1.000 Filmen, die genau das versuchten. Und auch wenn es hier mehr um die weibliche Fantasie als den Thrill geht, so entlockt das Geständnis, dass auch Frauen von Sex träumen, heute keinem mehr als eine müdes Gähnen. Ein Film, der nicht besonders gut gealtert ist.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Kino Lorber)

Idol (2019)

Regie: Lee Su-Jin
Original-Titel: Woo Sang
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Thriller
IMDB-Link: Woo Sang


Berlin. Die Sonne lacht vom Himmel, mit federnden Schritten erscheine ich im Grand Hyatt Hotel am Potsdamer Platz, wo das Pressebüro der Berlinale untergebracht ist, „lasst mich mal durch, ich gehöre hier dazu“, und einige Minuten später stolziere ich mit meinem Akkreditierungs-Badge wie ein Pfau an der ewig langen Schlange vor dem Ticketschalter im CineStar-Kino vorbei, „ja, ich bin Presse“, und bemitleide den armen Pöbel ein wenig, ich würde so etwas ja nie machen, mich stundenlang in eine Warteschlange für Kinotickets für ein Filmfestival zu stellen, vielleicht sogar in aller Herrgottsfrüh aufzustehen, um extra früh da zu sein, gell, Viennale? Husthust. Meine Erstsichtung auf der diesjährigen Berlinale, die ich dieses Jahr nur die letzten paar Tage besuchen kann, ist auf den Film „Idol“ von Lee Su-Jin gefallen. Es beginnt also in Südkorea. Und dort hat ein hochrangiger Politiker erst einmal ein kleines Problem, weil der Spross mit dem Auto einen Jungen umgemäht hat. Der Lösungsansatz der Ehefrau und Mutter wäre ja ein ganz praktikabler: Man schrubbt das Blut von der Karre und versenkt das Opfer irgendwo still und heimlich im Nirgendwo. Aber weil sich der Politiker als moralischer Mensch sieht, geht das so nicht, also muss sich der Nachwuchs der Polizei stellen und das Opfer bringt man schön wieder dorthin, wo man es gefunden hat. Bleibt immer noch ein Unfall mit Fahrerflucht, aber solange niemand etwas Anderes gesehen hat, kommt man damit glimpflich davon. Nur stellt sich schon bald heraus: Es hat jemand etwas gesehen. Die Frau des Opfers nämlich, die als illegale Einwanderin panisch die Flucht vom Tatort ergriffen hat. Der Vater des Opfers und der Vater des Täters suchen die nun beide gleichermaßen – aus unterschiedlichen Gründen. Und so entspinnt sich bald ein Katz-und-Maus-Spiel, das dank dunkler Motive und der Beteiligung weiterer Protagonisten immer verworrener und blutiger wird. „Idol“ ist ein Film, der durchaus interessant anzusehen ist, aber wenn irgendjemand den Film mal sehen und tatsächlich verstehen sollte, bitte ich um sachdienliche Hinweise. Je weiter der Film fortschreitet, desto planloser wurde ich beim Sichten. Ich habe mich zwar nicht gelangweilt, aber eine kohärente Zusammenfassung der Handlung könnte ich keine geben. Deshalb schreibe ich lieber über die Abholung von Presse-Badges und das Berliner Wetter, um die Zeilen zu füllen.


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Vill Lee Film)

Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!

Morgen, am 7. Februar, werden die 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin, kurz: Berlinale, eröffnet. Weil ich letztes Jahr brav war und keine Kinosäle demoliert habe, darf ich dieses Jahr erneut mit einer Presseakkreditierung im Gepäck die Festival-Locations unsicher machen. An dieser Stelle ein Dankeschön an das Pressebüro der Berlinale, und das mit dem Geldkoffer bleibt unter uns, gell?

Da der Kürbis aber auch noch mit anderem Gemüse beschäftigt ist, werde ich nur die letzten Festival-Tage vor Ort sein, konkret vom 14. bis 17. Februar. Ich werde natürlich ausführlich darüber berichten. Als Kompensation für die Tage, die ich verpasse, werde ich mich dann rund um die Uhr in die Kinos setzen. Falls ihr zufälligerweise mal neben mir hocken solltet: Ich wäre euch dankbar, wenn ihr dem tief in den Sitz versunkenen Bleichgesicht neben euch gelegentlich mal einen Powerriegel zwischen die kraftlosen Lippen schieben könntet. Auch Reanimationsmaßnahmen können jederzeit gern eingeleitet werden. Besten Dank, vergelt’s Gott!

Und hier noch die bärige Plakatserie der diesjährigen Berlinale. Viel Spaß beim Durchklicken.