Jean-Pierre Dardenne

Tori and Lokita (2022)

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Original-Titel: Tori et Lokita
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Tori et Lokita


Zum Abschluss meiner persönlichen Viennale gab es noch mal richtiges Wohlfühlkino, wie man es von den Brüdern Dardenne gewohnt ist. Die Jungs sorgen immer für Spaß. „Tori et Lokita“ ist da keine Ausnahme und reiht sich in ihr Gesamtwerk stimmig ein. Erzählt wird von einer sehr engen Beziehung zweier minderjähriger Flüchtlinge, die nach langer und beschwerlicher Reise in Belgien gelandet sind und nun – für die Aufenthaltsgenehmigung – beweisen müssen, dass sie Geschwister sind. Was nicht so einfach ist, da sie sich tatsächlich erst auf dem Boot nach Europa kennengelernt haben. In der Zwischenzeit verticken sie Drogen für einen Pizzabäcker, der sich dadurch ein Nebenbrot verdient. Außerdem müssen sie sich mit der Schlepperbande herumplagen, der sie immer noch Geld schulden. Alles wird von Minute zu Minute prekärer, und so bleibt Lokita bald kein Ausweg mehr, als das Angebot des Pizzabäckers anzunehmen, für ihn zwei Wochen lang als „Gärtnerin“ zu arbeiten, sprich: auf der geheimen Hanfplantage. „Tori et Lokita“ zeigt einmal mehr die schier ausweglose Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft auf. Die Dardenne-Brüder haben einen sehr nüchternen, gleichzeitig aber intimen Blick auf diese Figuren, der die tragischen Schicksale nicht dramaturgisch überhöht, doch gerade deshalb eine Kraft entfaltet, die sich in der Magengrube entlädt. Viennale-Festivalkino par excellence. Wer dann noch fröhlich ist, hat sich echt gute Drogen reingepfiffen.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Das unbekannte Mädchen (2016)

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Original-Titel: La Fille Inconnue
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: La Fille Inconnue


Der aktuellste Film der Brüder Dardenne, deren Filme regelmäßig auf der Viennale gezeigt werden, handelt von einer jungen Ärztin (grandios gespielt von Adèle Haenel), die vor dem nächsten Karriereschritt steht, als eine Stunde nach Praxisschluss jemand an ihrer Tür läutet. Ihr Praktikant möchte schon öffnen, aber sie heischt ihn an, das Läuten zu ignorieren, denn immerhin hat die Praxis schon lange geschlossen und wenn man so spät noch Patienten aufnimmt, läuft man Gefahr, aufgrund der eigenen Müdigkeit falsche Diagnosen zu stellen. Am nächsten Tag wird der Leichnam einer jungen Frau unweit der Praxis gefunden, und die Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass es jene junge Frau war, die voller Angst an der Tür der Ärztin geläutet hat, ehe sie weiter und damit in den Tod gelaufen ist. Vom Schuldgefühl geschüttelt beginnt die Ärztin, selbst Nachforschungen zu der jungen Frau anzustellen, um ihr ein anständiges Begräbnis zukommen lassen zu können. „La Fille Inconnue“ (auf der Viennale 2016 gezeigt in Anwesenheit von Luc Dardenne, der im Anschluss an die Vorführung auch viel Interessantes zum Film zu sagen hatte) ist ein ruhiger, nachdenklicher Film, der sich mit Moral und Ethik und der Frage des Schuldgefühls nach unterlassener Hilfeleistung beschäftigt. Unweigerlich wird man an die Schutzsuchenden erinnert, die vor dem Krieg nach Europa flüchten, an jene, die im Mittelmeer ertrinken und jene, die es schaffen, aber dann vor den kalten Mauern unserer Herzen stehen. Die Kunst der Dardenne-Brüder in diesem Film ist es, diese Fragen im Hintergrund mitschwingen zu lassen, ohne sie aber plakativ aufzurollen. Es geht um die Schuld des Einzelnen, auch um Sühne, um die Verschiebung von Prioritäten und um Courage. Getragen wird „La Fille Inconnue“ zudem von einer wirklich großartigen Hauptdarstellerin. Abzüge gibt es dafür, dass das Privatleben der Ärztin komplett außen vorgelassen wird (auch wenn Luc Dardenne die Gründe für diese Entscheidung erklärt hat), und dass die Menschen in diesem Film oft sehr übereifrig damit sind, ihr Gewissen zu erleichtern.


7,5
von 10 Kürbissen

Zwei Tage, eine Nacht (2014)

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Original-Titel: Deux Jours, Une Nuit
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Drama
IMDB-Link: Deux Jours, Une Nuit


Die Dardenne-Brüder machen „Problemkino“. Sprich: Wenn man sich in einen Film der Dardennes setzt, weiß man, dass sich der Gemütszustand zwei Stunden irgendwo später zwischen „nachdenklich“ und „erschüttert“ einpendeln wird. Das Gute an den beiden belgischen Brüdern ist, dass sie ihre wichtigen Themen und brennenden Fragen, die zum Weiterdenken anregen, auf eine filmisch sehr reduzierte Weise präsentieren, also nicht mit dem Holzhammer auf den Zuseher einprügeln (dann wären ihre Filme wohl unerträglich), sondern die Geschichten ohne Schnickschnack und sehr subtil erzählen. In „Deux Jours, Une Nuit“, gezeigt im Rahmen der Viennale 2014, spielt Marion Cotillard (für diese Rolle Oscar-nominiert) die junge Mutter und Fabrikarbeiterin Sandra, die nicht nur mit Depressionen zu kämpfen hat, sondern auch mit der Wirtschaftslage, die ihren Arbeitgeber zu einer sehr ungewöhnlichen Maßnahme greifen lässt: In einer Abstimmung unter der Belegschaft soll entschieden werden, ob Sandra entlassen werden soll, damit die verbliebenen Mitarbeiter einen Jahresbonus von 1.000,- Euro erhalten können, oder ob man auf den Bonus verzichtet, dafür Sandra als Kollegin behält. Sandra hat nun ein Wochenende Zeit, die Kollegen davon zu überzeugen, bei der Abstimmung für sie und gegen das Geld zu stimmen. Darauf aufbauend werden auch die Einzelschicksale der Kollegen gezeigt, die selbst mit der Sicherung ihrer Existenz zu kämpfen haben. Die Ausgangslage des Films zeigt also sehr zynisch das Prinzip und die moralischen Grenzen des egozentrierten Kapitalismus auf. Daraus ergeben sich wichtige Fragen nach Integrität und Gemeinschaftssinn. Auch die Überlegung, ob die Gesellschaft, in der wir leben, tatsächlich das Ideal darstellt oder wir uns in eine Sackgasse manövriert haben, wird aufgeworfen. Der Film hat zwar manche Längen, und die spröde Art der Brüder Dardenne, ihre Geschichten zu erzählen, ist vielleicht für manche eine Herausforderung, aber lohnenswert ist dieser Film auf jeden Fall – und er beschäftigt den Zuseher noch lange, nachdem die Lichter des Kinosaals wieder angegangen sind. Einer der Filme der Viennale 2014, die mir am besten in Erinnerung geblieben sind.


7,5
von 10 Kürbissen