Julia Ducournau

Titane (2021)

Regie: Julia Ducournau
Original-Titel: Titane
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama, Horror
IMDB-Link: Titane


Für den diesjährigen Eröffnungsfilm des Slash Filmfestivals hat man niemand Geringeren als den diesjährigen Gewinner der Goldenen Palme in Cannes auserkoren. Auf den war ich schon sehr gespannt nach durchaus geteilten Meinungen unter den Kritikern – vor allem aber aufgrund von Julia Ducournaus fulminantem Vorgängerfilm Raw, den ich damals vielleicht sogar einen Tick schlechter bewertet habe, als er es in der Nachbetrachtung verdienen würde. Denn viele Bilder des Films haben einen starken Eindruck auf mich gemacht und sind heute noch präsent. Gleich vorweg: Bei „Titane“ wird das wohl ähnlich sein. Denn Julia Ducournau schont nichts und niemanden – die Bilder sind stark, fesselnd, brutal und konsequent. Ganz grob zusammengefasst geht es um Alexia, der als Kind – als Folge eines Autounfalls – eine Titanplatte im Kopf eingesetzt wurde, und die im jungen Erwachsenenalter einen ungesunden Fetisch für Autos und Gewalt entwickelt hat. Der eher realitätsnahe Teil der Handlung ist, dass sie sich so lange durch die Stadt mordet, bis ein Phantombild von ihr angefertigt werden kann und sie daraufhin die Identität eines vor 15 Jahren verschwundenen Jungen annimmt (und damit beim verzweifelten Vater des Jungen auch durchkommt). Wie gesagt, das ist der Teil, der noch am ehesten in der Realität verankert ist. Richtig spooky wird es aber durch die Tatsache, dass sie nach einem leidenschaftlichen Geschlechtsakt mit einem Auto schwanger wird und fortan Motoröl aus ihrem Körper rinnt, während in ihr etwas heranwächst, das vielleicht mal Mensch, vielleicht mal Auto sein wird. Das ist harter Stoff, vor allem, wenn er so schonungslos dargebracht wird. Wie auch in „Raw“ ertönt im Kinosaal aus dem Publikum heraus immer wieder fassungsloses Gelächter, das den Schock des gerade Gesehenen überdecken soll. „Titane“ ist ganz klar ein Body-Horror-Film, der sich aber ebenso klar allen anderen Zuschreibungen entzieht. Es ist ein fürchterliches Monster von Film, das sich fast schon nebenbei an Geschlechterklischees und Fragen nach Identität und Rolle abarbeitet, während der nächste Schock nur eine Szene weiter lauert. Grandios gespielt von Newcomerin Agathe Rousselle und Vincent Lindon in den Hauptrollen bohren sich die ambivalenten Figuren unaufhaltsam in die Hirnwindungen – ob es einem nun gefällt oder nicht. Stilistisch erinnert der Film am ehesten noch an Gaspar Noé, und auch der spaltet ja die Meinungen des Publikums. „Titane“ ist ein Film, über den man nur schwer reden kann, der aber – ob im Positiven oder Negativen – wohl eine starke Reaktion auslöst, wenn man ihn sieht.


7,5 Kürbisse

(Foto: Slash Filmfestival, (c) Carole Bethuel)

Raw (2016)

Regie: Julia Ducournau
Original-Titel: Grave
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Horror
IMDB-Link: Grave


Als „Raw“ 2016 in Toronto auf dem Filmfestival gezeigt wurde, fielen einige Zuseher in Ohnmacht und mussten medizinisch versorgt werden. Das Stadtkino-Publikum gestern hatte stärkere Mägen, und die Reaktionen auf den Film beschränkten sich auf entsetztes Aufstöhnen, gefolgt von hysterischem Gelächter. Aber die Reaktionen in beiden Fällen zeigen: „Raw“ ist heftig und bricht Tabus. Der Film handelt von der jungen Vegetarierin Justine, die an der Universität, auf der auch schon ihre ältere Schwester eingeschrieben ist, das Studium der Veterinärmedizin aufnimmt. Dabei muss sie mühsame und seltsame Initiationsriten durchlaufen – was darin gipfelt, dass sie als Vegetarierin rohe Hasennieren essen muss. Ihre Schwester nötigt sie dazu und enthüllt dadurch, dass sie selbst keine Vegetarierin mehr ist. Justines Reaktion auf das ungewohnte Fleisch fällt heftig aus: Sie bekommt überall am Körper einen juckenden Ausschlag. Und sie entwickelt seltsame Gelüste – auf Fleisch. Dieser Hunger lässt sich nur schwer stillen, wie sie herausfindet. Bald reicht ihr der Hamburger nicht mehr, und sie beißt in das rohe Putenfilet. Und als bei einem Unfall ihre Schwester einen Finger verliert, erweist sich dieser als schmackhaft wie ein Hühnerhaxen. Die Büchse der Pandora ist damit endgültig offen. „Raw“ ist eine etwas andere Coming of Age-Geschichte. Hinter dem Topos des Horrorfilms verbirgt sich nämlich die Frage nach verborgenen (und verbotenen) Gelüsten und Selbstkontrolle. Der Film taucht damit tief in die menschliche Natur ein. Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn alle Menschen einfach nur ihren Trieben und Gelüsten nachgeben würden? In Extremsituationen sieht man oft, wie die gesellschaftlich konstituierte Schranke, die unsere niederen Triebe zurückhält, eingerissen wird. „Raw“ macht im Grunde das Gleiche – nur auf eine drastischere Weise, nämlich losgelöst von der Extremsituation, ins Symbolhafte gedreht und projiziert auf eine absolute Sympathieträgerin, denn die nerdige, fleißige, unschuldige und hübsche Studentin, die Tierärztin werden möchte, ist jene Figur, die man am weitesten entfernt von solchen extremen Gelüsten glaubt. Das macht es umso unangenehmer, wenn sie gierig das aus dem Fingerstumpen ihrer Schwester tropfende Blut aufleckt. Fazit: Nur etwas für Saumägen.


7,0
von 10 Kürbissen